Mehr als 12.000 Flüchtlinge sind in den vergangenen zwei Jahren in den kleinsten Regierungsbezirk Bayerns, nach Oberfranken gekommen. Sie wollen bleiben. Für eine deutsche Durchschnittsfamilie, Mutter, Vater, zwei Kinder und vier Großelternteile bedeutet dies, ein Flüchtling pro Familie. Aber wo sind all die Flüchtlinge?
Flüchtlinge bevölkern Oberfranken, sind aber nirgends zu sehen – Eine Spurensuche
Ein imposanter Bau, eine Festung, weit oberhalb der Stadt gelegen. Von der Plassenburg kann nahezu das gesamte Stadtgebiet Kulmbachs gesehen werden. Ein reges Treiben offenbart der Blick auf die Bundesstraße hier mitten in Oberfranken. Autos scheinen vorbei zu fliegen, ohne dass ihre Insassen die Festung überhaupt wahrnehmen könnten. Menschen können von hier oben nicht erkannt werden.
Der Abstieg führt hinab in die historische Altstadt Kulmbachs. Immer enger werden die Gassen. Die Gebäude sind alt, haben Charme. Der Putz bröckelt von der Wand. Eine Kette erinnert an einen frühzeitlichen Lastenzug, ein Vorgänger des Flaschenzugs. Die dunklen Gänge sind gerade breit genug, damit eine Person hindurchgehen kann. Bislang ist kein Mensch zu sehen. Die Straßen werden breiter. Hier kann zumindest ein Auto entlangfahren. Busse und LKW nutzen lieber die Hauptstraßen. Der Weg nach rechts führt zu einem Spielplatz und zur Stadthalle. Auf der linken Seite entlädt ein älterer Herr den Kofferraum seines PKWs. Er steht im Halteverbot.
Wo sind denn die vielen Flüchtlinge?
Immer mehr Menschen sind zu sehen. Eins, zwei, drei, bis zur neunten Begegnung – kein Flüchtling. Sechzehn, vierundzwanzig, zweiunddreißig – kein Flüchtling. Obwohl allein im Jahr 2015 fast 9.000 Flüchtlinge Oberfranken erreicht haben, scheinen sie am öffentlichen Leben nicht teilzunehmen. 32 Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber gibt es in Oberfranken, fünf davon in Kulmbach und dem Landkreis. Betrieben und verwaltet werden diese Gebäude durch die Regierung von Oberfranken. Es gäbe besondere Anforderungen an die Haustechnik, den Brandschutz, die Infrastruktur und die Nachbarschaft, bevor eine Immobilie angemietet werden könne, berichtet der zuständige Sachbearbeiter der Regierung.
Den Einkaufswagen gibt es beim Discounter für einen Euro
In Mainleus, inmitten einer Eigenheimsiedlung steht ein älteres Mehrfamilienhaus. Es erinnert an den Baustil der siebziger Jahre. Funktional, ausreichend Platz für kleine Familien und bezahlbarer Wohnraum. Früher wohnten hier die Gastarbeiter der ehemaligen Spinnerei. Nun dient dieses Haus 75 Flüchtlingen als Unterkunft. Einige Supermärkte befinden sich in direkter Nähe, sind fußläufig erreichbar. Die Hecken hier sind akkurat gestutzt, die Zäune ausgerichtet. In einem Vorgarten wacht ein Gartenzwerg. Etliche Fahrräder lehnen an der Hauswand der Gemeinschaftsunterkunft. Einige sind fahrtauglich und werden täglich genutzt. Andere sind lange nicht mehr fahrbereit. Sie bleiben zurück, wenn Bewohner ausziehen. Oder sie können mangels des technischen Sachverstands und des finanziellen Aufwands für Ersatzteile nicht repariert werden. Auch zwei Einkaufswagen der Discounter stehen bereits vor der Tür. Sie dienen den Asylbewerbern als Transportmöglichkeiten für den Einkauf. Schließlich können die Einkaufswagen bereits für einen Euro beim Supermarkt ausgeliehen werden.
Aytad aus Aserbaidschan und Subhan aus Pakistan reden Türkisch miteinander
Nach Stunden der Suche – der erste Flüchtling. Der junge Asylbewerber Subhan aus Pakistan steht vor der Tür. Er schnappt frische Luft, obwohl bereits der Duft des Mittagessens überwiegt. Typisch orientalische Gewürze werden für die Mittagsvorbereitungen genutzt.
Er trägt ganz leger Sandalen, eine moderne Jogginghose, T-Shirt, Sportanzugjacke und eine graue Mütze. Hinter ihm im Eingangsbereich ist Kinderspielzeug zu sehen. Eine Werkbank mit entsprechendem Zubehör, ein Dreirad und ein Bobby Car. Ein anonymer Spender habe die Sachen heute Morgen für die Kinder dort hingestellt, erzählt der Hausverwalter später. Subhan wendet sich ab. Er unterhält sich mit einem achtjährigen Mädchen aus Aserbaidschan über die Spielzeuge. Sie sprechen beide türkisch um sich zu verständigen. So funktioniert der interkulturelle Austausch. Jeder spricht irgendeine Sprache, mit der er wieder jemand Anderen erreichen kann.
Eine überraschende Erkenntnis. Die achtjährige Aytad spricht neben ihrer Heimatsprache noch Türkisch und mittlerweile sehr passabel und gut verständlich Deutsch. Sie zeigt ihre Hautrötungen, dürfe heute leider nicht in die Schule gehen, sie habe die Windpocken, sagt sie. In Deutschland werden viele Kleinkinder gegen diese Krankheit geimpft. In den Herkunftsländern ist dies meist nicht üblich. Heute nimmt sich Aytad zum Trost ein kleines Spielzeug mit und geht zum Mittagessen.
Rückkehr ausgeschlossen, zu groß ist die Angst vor Repressalien
Auch Subhan geht zum Mittag. Er zeigt seine Wohngemeinschaft. Sie leben hier zu fünft, vier von ihnen sind anwesend. Anate steht in der Küche, bereitet eine pakistanische Spezialität zu. Eine Art Fladenbrot zu der es Gemüse, Reis und Erbsen gibt. Ali springt sofort von seinem Stuhl auf. Er hatte bereits mit dem Mittagessen begonnen. Gegenüber einem Besucher gebühre sich dieses Verhalten jedoch nicht, sagt er. Er stellt seinen Teller beiseite und zieht sich sofort ein Hemd an. Jawad steht aus seinem Bett auf, übersetzt bereitwillig und erzählt, wie er nach Deutschland gekommen ist. Über Libyen, Italien und Österreich brachte ihn seine Flucht nach Deutschland. Schon in Italien hat er Deutsch gelernt, um hier bessere Chancen zu haben. Warum er geflohen sei, beantwortet er nur zögernd. Probleme habe er in Pakistan gehabt. Mehr möchte er nicht erzählen. Zu groß ist die Angst einiger Flüchtlinge vor Repressalien in ihren Heimatländern.
Ständig auf der Flucht – Sie lassen alles hinter sich
Im dritten Obergeschoss gibt es grad eine freie Wohnung. Scheinbar über Nacht ist die junge Familie verschwunden, die hier gewohnt hat. Vielleicht war diese Gemeinschaftsunterkunft nur eine Zwischenstation ihrer Flucht und sie sind einfach weitergereist. Mysteriös scheinen aber die Umstände ihrer Abreise. Niemand im Haus kann oder will sagen, wann und wohin die Familie gereist ist. Die Wohnungstür von gegenüber wird mehrfach geöffnet. Sie schauen nach dem Rechten, war doch Lärm im Flur zu hören. Mal schauen die Kinder zur Tür heraus, mal ist es die Mutter. Reden, möchten sie jedoch nicht.
In der leeren Wohnung offenbart sich eine vermeintliche Tragödie. Überhastet scheint die Abreise gewesen zu sein. Den Netzstecker des Kühlschranks haben sie noch ausgezogen, haltbare Lebensmittel mitgenommen, erzählt der Hausverwalter. Verderbliche Lebensmittel blieben zurück. Eine Packung grüner Bohnen liegt noch in der Spüle. Die Spielzeuge sind bereits zusammengeräumt. Sogar zwei vermeintlich nagelneue Handys habe er gefunden, sagt der Hausverwalter. Nun werde die Wohnung schnellstmöglich wieder saniert, der Schimmel beseitigt, damit die nächsten Asylbewerber hier eine Bleibe finden können.
Hören Sie hier, wie es in der verlassenen Wohnung der Flüchtlinge aussieht:
Eine verschleierte Frau nach Tampons fragen – ein No-Go
Die Hausverwalter sind die Schlüsselpersonen in den Gemeinschaftsunterkünften. Sie sind Sprachmittler, Streitschlichter, Medizinvermittler; kurzum, sie sind Mädchen für Alles: „Ein Hausverwalter ist von Beruf wie ein Kindergärtner, aber im Mittelpunkt unseres Handelns stehen die Menschen“, berichtet einer von ihnen. Bei aller Gastfreundschaft der Asylbewerber, aber zum Essen lässt sich ein Hausverwalter nicht einladen. Dies könne Neid oder Bedürfnisse der anderen Hausbewohner schüren: „Warum bei denen, aber nicht bei uns? Oder aber warum bei denen zuerst?“
„Ein Hausverwalter ist von Beruf wie ein Kindergärtner“
Zwei Hausverwalter betreuen bis zu 200 Asylbewerber, mit mehr als elf verschiedenen Nationalitäten. Gestern noch haben sie Waschmaschinen geschleppt, heute werde der Wasserboiler repariert. Die Hausverwalter sind wie eine gute Fee, kümmern sich einfach um alles. Manchmal müsse er sogar die Kinder wecken, damit sie pünktlich zur Schule kommen, erzählt der Hausverwalter in Mainleus. Es sei auch schon vorgekommen, dass ein Kind in die Hose gemacht habe und diese dann aus Scham die Toilette heruntergespült hat. Das Malheur des verstopften Abflusses durfte der Hausverwalter beseitigen. Lediglich im Umgang mit Frauen kämen sie schon mal an ihre Grenzen. Denn eine vollverschleierte Frau beim Einchecken zu fragen, ob sie eine Binde oder Tampons in ihrem Begrüßungspaket benötige, gehe dann doch schon sehr weit in die Intimsphäre. Da seien sie dann froh, wenn die ehren- oder hauptamtlichen Helfer, zum Beispiel von der Caritas, vor Ort sind.
Die Polizisten kommen mit schwarzen Skimasken
Andrea Boujjia arbeitet für die Caritas. Sie ist öfter hier in Mainleus. Andrea Boujjia betreut die Flüchtlinge, koordiniert die ehrenamtlichen Helfer oder verteilt Sachspenden. Auch für sie sei es besonders schön, Kinder wieder lachen sehen zu können und ihnen zu ermöglichen eine Schule zu besuchen, erzählt sie. Abschiebungen hingegen seien schockierend. Der Hausverwalter schildert in beängstigender Weise, dass Abschiebungen meist nicht angekündigt werden, damit die Personen vorher nicht fliehen. Dann kämen die Polizisten mit ihren schwarzen Skimasken auf dem Kopf und holen die abzuschiebenden Personen einfach ab. Eine sehr schwierige Situation für die Helfer, aber auch für die Flüchtlinge.
Der für die Anmietung der Gemeinschaftsunterkünfte zuständige Beamte der Regierung Oberfranken, erzählt: „Das Ankunfts- und Rückführungszentrum in Bamberg hat eine abschreckende Wirkung auf die Asylbewerber. Hier können demnächst bis zu 4.500 Flüchtlinge, abzuschiebende und freiwillig rückreisende Personen untergebracht werden. Diese Menschen stammen in der Regel aus sicheren Herkunftsländern und haben kein Bleiberecht“. Natürlich sei nicht die Abschiebung, sondern die Integration das Ziel. Aber rückblickend auf die bereits 1,1 Millionen Flüchtlinge in 2015 und voraussichtlich mindestens 500.000 Flüchtlinge in 2016 bleibe den Behörden keine andere Wahl, als die Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern wieder in ihre Heimat zurückzuschicken. Einige gingen auch freiwillig. Jene, die bleiben dürfen, benötigen unsere Hilfe. Sie möchten und müssen in unsere Gesellschaft integriert werden. – von Tony Gutmann
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