Der kleine Lord – Erlebnisse mit einem Freund auf Zeit
Eine Wanderung mit Hund durch das Fichtelgebirge
von Ralf Oesterreicher
Sie stehen in Sichtweite. Räudige verlumpte Typen und sie versperren die enge Straße. Sie sind zu zweit, ein Schwarzer mit auffallend kurzen Beinen und einer mit langen krausen Locken. Nur keine Angst zeigen. Wir gehen unser Tempo weiter. Sie warten. Wir sehen uns gegenseitig an und es ist klar, wir müssen da vorbei. Als wir näher kommen, schreiten sie ein paar Schritte auf uns zu. Der Lord will ausweichen, aber ich gehe meinen Weg. Noch drei Meter. Die Eskalation droht. Ich brülle die beiden an: „Haut ab, haut sofort ab!“ So laut ich kann. Sie weichen zurück. Nicht viel, nur ein paar kleine Schritte. Der Lord zittert. Er bleibt ruhig, aber er hat Angst. Man sieht es. Wir sind neben ihnen. Ich sehen die Zähne des Lockenkopfs. Er sieht fies aus. Nur keine Angst zeigen! Weiter, einfach weiter. Wir sind vorbei. Aber werden sie uns folgen? Die beiden aber harren auf dem Fleck aus. Sie sehen uns mit starren dunklen Augen nach. Es ist geschafft. Der Lord wird ruhiger. Und auch mir wird es langsam wohler. Die Begegnung mit den beiden Dorfkötern hatten wir schon mal überstanden.
Keine Viertelstunde zuvor hole ich Lord, einen eher kleinen, beigen Labrador, aus dem Tierheim Breitenbrunn bei mir in der Nähe. Zum Gassi gehen. Von dieser Möglichkeit habe ich auch nur zufällig gehört. Aber es ist sicher etwas Tolles, so etwas zu tun. Den Hund wenigstens für kurz aus seinem tristen Alltag in den grauen, öden Käfigen herauszuholen und ihm das Gefühl zu geben, da ist jemand. Jemand, der sich um ihn kümmert und ihm ein bisschen Zuneigung gibt. Vielleicht nur einmal, vielleicht für öfter.
„Ich habe mit Ihnen telefoniert. Ich wollte einen Hund abholen, um mit ihm auf die Kösseine zu gehen“, sage ich zu Frau M. Sie ist die Chefin des Tierheims und kümmert sich dort um die Organisation. Als ich durch die schmale Glastüre gehe und auf den tristen, mit Linoleum ausgelegten Gang trete, schlägt mir ein beißender Geruch nach nassem modrigen Fell vermischt mit Desinfektionsmittel in die Nase. Es gibt dort Katzen, Hunde und Kleintiere wie Hasen und Meerschweinchen. Eben wie in den meisten Tierheimen. Schon 50 Meter, bevor ich überhaupt geklingelt habe, bricht die Hölle los. Bellen – laut, hell, dunkel, jaulend, wimmernd. Das erzähle ich ihr staunend. „Sie spüren das, schon aus der Entfernung, wenn etwas passiert“, erklärt mir Frau M., sie hat grüne Gummistiefel an und eine dunkle Jeans. Und eine bunte Schürze. Hier wird gearbeitet. Hier ist es dreckig und man muss kräftig anpacken können. Exkremente wegräumen, Hunde und Katzen abschrubben. Ekeln darf man sich nicht, wenn man so eine Arbeit macht. „Dann kommen Sie mal mit“, sagt sie und wir gehen einen langen Gang entlang. An den Seiten schwere braune Metalltüren. Dann rechts eine große Glasscheibe, durch die man etwa 20 Zwinger sehen kann, aus denen sehnsuchtsvoll neugierige Hundegesichter durch stählerne Gitter starren. Einige schauen nur, andere wedeln wild mit dem Schwanz und bellen, zwischen fröhlich und aufgeregt. In der dritten Box auf der linken Seite lugt ein kohlrabenschwarzer Riesenspitz zwischen den dicken Metallstäben hervor. Ganz vorne ist ein mittelgroßer Schäferhund mit kupiertem Schwanz, rechts sind die kleineren Hunde untergebracht. Eine kleine Colliedame, ein Dackel, Pudel und auch ein paar aus der Handtaschenfraktion. „Die kleinen Hunde wollen die meisten“, sagt Frau M. und sieht mich fragend an. „Ich verlasse mich da ganz auf Sie“, sage ich.
Die Entscheidung fällt auf Lord
„Mmhh, Sie sollten Lord mitnehmen, der muss auf jeden Fall mal raus,“ sagt Frau M. Lord ist ein beiger Labrador. Nicht besonders groß und auch noch recht jung, wie mich Frau M. über den Rüden informiert. „Wie gesagt, ich verlasse mich da ganz auf Ihr Urteil“, entgegne ich. „Ich würde mich freuen, wenn ich Lord mitnehmen dürfte.“ „Er ist ein ganz ein Lieber. Ein etwas dominantes Wesen. Aber ganz lieb. Nur mit anderen Hunden verträgt er sich nicht so.“ „Oh Mann“, denke ich mir, „vielleicht sollte ich doch nach einem einfacheren Hund fragen?“ Aber Frau M. scheint das echt wichtig zu sein. Eine Herzensangelegenheit, so scheint es. Ich stimme zu und Frau M. verschwindet um die Ecke. Ich warte und sehe mir weiter die vielen Hunde an. Zahlreiche verschiedene Schicksale. Nach zwei Minuten (Was hat sie nur so lange getrieben?) taucht Frau M. wieder auf – mit einem wild gewordenen Bündel Fell, das wie geistesgestört im Gang herumspringt. Von links nach rechts, von rechts nach links, wieder zurück und dann auf mich zu. „Der ist total aufgeregt“, sagt Frau M. Das sehe ich, denke ich mir! Und der Beweis folgt auf dem Fuße beziehungsweise knapp daneben, wo Lord auf den grauen Linoleumboden eine spiegeleigroße gelbe Pfütze hinmacht. „Das macht nix, er ist halt aufgeregt“, besänftigt noch einmal Frau M.
Wir versuchen nun miteinander, Lord ein Geschirr anzulegen. „Damit läuft es sich einfacher“, erklärt mit Frau M. Einfach anzulegen ist das Teil jedoch nicht, denn Lord hörte uns zuliebe nicht im geringsten mit dem wilden Rumgehüpfe auf. Es funktioniert schließlich mit Teamwork – ich halte den Labrador am Halsband und M. streift ihm das blaue dünne Kunststoffgeschirr mit den Klickverschlüssen um. Es ist geschafft! Lord und ich sind ausgehfertig.
Außen neben der Glastür ist auf der linken Seite ein kleiner Stromkasten, an dem Lord herumschnüffelt. Ich schaue noch einmal, ob Frau M. mir noch irgendwelche Anweisungen geben will, aber sie ist weg. Und auch eine der beiden Würste, die auf dem Stromkasten gelegen haben. Schmatzend sieht mich der Labrador an. Ich habe etwas zu beichten, wenn ich ihn wieder abgebe. Aber jetzt erstmal los.
Man merkt, dass Lord noch jung ist. Ich muss die Leine zweimal um mein Handgelenk wickeln, um ihn im Griff zu halten. Er zieht nach links, wenn ich nach rechts will und umgekehrt. Noch ist er eindeutig der Chef im Ring. Es bläst ziemlich draußen, in den Nachrichten haben sie Sturm angesagt. Hoffentlich wird’s nicht so wild, denke ich mir und werde weiter gezerrt. Wie am Ende einer Peitsche treibt mich der junge Rüde durch das kleine Bauerndorf, auf beiden Seiten alte, zum Teil sehr schön renovierte Bauernhäuser mit marmornen Fenstergiebeln und immer noch mit Blumenschmuck. Mitte Dezember! Was blüht da noch? Eine enge Straße schlängelt sich nun Richtung Wald. Der Wind nimmt zu und Lord macht seinen mittlerweile dritten Haufen. Und wir sind erst eine Viertelstunde unterwegs.
Als wir höher kommen auf unserem Weg zur Kösseine, einem fast 1000 Meter hohen, mit dichtem Nadelwald umgebenen Berg im nordbayerischen Fichtelgebirge, tauchen erste Schneefetzen auf. Zuerst nur zwischen den Fichten und auf einigen moosbewachsenen Felsen am Waldrand. Später wird der Fleckerlteppich dichter. Ein paar Meter vor uns erspäht Lord einen fußballgroßen Eisbatzen – wahrscheinlich hat ihn ein Auto verloren. Er sieht aus wie diese Teile, die sich hinter dem Hinterrad ansammeln und irgendwann ´runterplumpsen. Zuerst riecht Lord vorsichtig an dem weißgrauen Gebilde, dann beißt er herzhaft hinein und lässt es sich mit Freude schmecken. Er scheint durstig zu sein. Den Gedanken behalte ich bei mir und just hundert Meter weiter sehe ich links neben dem Weg einen winzigen Bergbach herunterrieseln. Kaltes kristallklares Wasser, dass seinen Weg ins Tal sucht. Ich ziehe Lord an der Leine vom Gehsteig in Richtung Bach. Zuerst weiß er nicht, was ich will und sträubt sich sogar. Aber als er dann über ein paar Sträucher steigt und kurz vor dem kühlen Nass steht, begreift er und schlabbert genüsslich das frische Elixier.
Wir gehen weiter. Er sieht sich nun manchmal um und wartet, wenn es mir zu schnell geht. Wir haben Augenkontakt. Ein dürrer Ast, den Lord vor sich auf dem Weg liegen sieht, wird zum Feind und gnadenlos zerfetzt. Oben in den Baumwipfeln windet es stark und die dunklen grünen Riesen scheinen nach uns zu greifen mit ihren langen dünnen Ärmchen. Es geht steil an und der Labrador marschiert. Ich komme mir vor wie in einem Schlepplift. Nur leider habe ich keine Ski angeschnallt.
An einem kleinen Teich führe ich Lord ans Ufer. Vorsichtig betritt er die graue Eisfläche. Man kann das Wasser darunter erahnen. Seine Tatzen drücken sich zuerst wenige Zentimeter in die poröse Fläche. Dann zersplittert das Eis in tausend kleine Scherben. Lord springt in letzter Sekunde wieder an Land, schüttelt sich und sieht mich treudoof an. Was hat der Kerl für eine Freude, denke ich mir. Und ein anderer Verdacht drückt sich wie durch einen Schraubstock gepresst in meine Gedanken: Hat Lords altes Herrchen ihn überhaupt mal mit in den Wald, mit in die Berge genommen? Denn der Hund freut sich über alles, war er sieht und riecht und ertastet seine Umgebung wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal die Welt entdeckt.
An einem engen Felsdurchlass, nur etwa 70 Zentimeter hoch und einen knappen halben Meter breit ist es vorbei mit Lords Mut. Ich steige in das Nadelöhr vor, aber der Labrador widersetzt sich mit all seiner Kraft. Die Leine ist bis zum Zerreissen gespannt, aber Lord gibt nicht nach. Er stemmt sich mit aller Macht dagegen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als um die Felsformation herumzugehen und dort nach einer Möglichkeit zu suchen, weiterzukommen. Wir müssen springen. Ungefähr einen Meter von einem mit rutschigem Schnee bedeckten Felsen. Ich nehme mir allen Mut zusammen und springe als erster. Da die Leine nur etwa einen Meter lang ist und ich – auf ausdrücklich Anweisung von Frau M. – Lord nie von eben dieser lassen darf, reißt es ihn in einer unvermeidlichen Kettenreaktion mit in die Tiefe. Sichere Landung, beide wohlauf. Es ist noch mal gutgegangen.
Als wir wieder aus dem Wald herauskommen, sehe ich links einer engen abschüssigen Gasse eine Pferdekoppel, auf der ein prächtiger schwarzer Araberhengst weidet. Auch Lord wittert den Hengst und ich höre ihn zum ersten Mal bellen. Ein dumpfes, dunkles Bellen. Ich zerre ihn auf die andere Seite des Gässchens und wir laufen weiter. Wir kommen auf die Straße, die hinunter ins Dorf führt. Alles gut, wir haben uns aneinander gewöhnt und sind nun ein Team. Als plötzlich von links aus einem Reiterhof drei Mischlinge durch das offene Gartentor gewetzt kommen. Es sind neue Kontrahenten, die ihr Revier verteidigen wollen. Sie wollen schon das Knurren anfangen, aber der Lord bleibt ganz ruhig und souverän. Wir lassen uns nichts anmerken und gehen einfach weiter. Verdutzt lassen wir die drei Dorfkläffer links stehen. Angst gibt es für uns nicht mehr.
Ich habe Lord wieder bei Frau M. abgegeben, bin nach Hause gefahren und habe mir eine Tasse starken schwarzen Kaffe gemacht. Ich schweige und starre vor mich hin. Irgendwie ist es nicht mehr wie vorher. Was macht wohl Lord gerade? Ich beschließe, ich will ihn wiedersehen!